
Hochbegabung und ADHS
Eine Frage der Differenzierung
Kinder mit Hochbegabung und Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) können auf den ersten Blick ähnliche Verhaltensweisen zeigen: Unruhe, Ablenkbarkeit, mangelnde Motivation oder impulsives Verhalten. Doch bedeutet dies automatisch, dass ADHS bei Hochbegabten besonders häufig vorkommt? In diesem Beitrag gehe ich dieser Frage nach. Hierbei berücksichtige ich die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung.
Besteht ein Zusammenhang zwischen Hochbegabung und ADHS?
Oft wird angenommen, dass Hochbegabte überdurchschnittlich häufig von ADHS betroffen sind. Tatsächlich gibt es jedoch keine methodisch überzeugenden Studien, die dies belegen. Die Prävalenz von Hochbegabung liegt je nach Definition bei 2 % (IQ über 130) oder 10 % (IQ über 120), während ADHS bei etwa 5 % der Kinder diagnostiziert wird. Untersuchungen zeigen, dass Kinder mit ADHS nicht überproportional hochbegabt sind. Unter den Hochbegabten liegt der ADHS-Anteil tendenziell sogar etwas niedriger, da das Arbeitsgedächtnis – oft beeinträchtigt bei ADHS – für komplexe kognitive Aufgaben eine wesentliche Rolle spielt.
Quelle: Dominik Geysler, Handbuch der Begabung, 2018
Neurobiologische Unterschiede zwischen Hochbegabung und ADHS
Trotz ähnlicher äußerer Symptome unterscheiden sich Hochbegabung und ADHS auf neurobiologischer Ebene grundlegend. Beide Gruppen zeigen eine vergleichsweise schwache Aktivierung des Stirnhirns beim Problemlösen. Allerdings hat dies unterschiedliche Ursachen:

- Hochbegabung ist durch neuronale Effizienz gekennzeichnet: Hochbegabte Kinder aktivieren weniger Neuronen im präfrontalen Cortex, da ihr Gehirn effizienter arbeitet. Stattdessen wird vermehrt auf hintere Hirnregionen zugegriffen, um Wissen abzurufen.

- ADHS hingegen ist durch eine verminderte Aktivität im mediofrontalen Bereich des Stirnhirns gekennzeichnet, der für Verhaltenskontrolle zuständig ist. Dies führt zu Schwächen in den exekutiven Funktionen, die für Planung, mentale Flexibilität und Impulskontrolle entscheidend sind.

- Underachievement bei Hochbegabung: Hochbegabte Underachiever zeigen eine verstärkte Aktivierung des limbischen Systems, was ihre Emotionen intensiver macht. Diese Sensitivität kann zu starken Stressreaktionen führen, wenn schulische Unterforderung oder ein „Misfit“ besteht.
Was bedeutet das für die Praxis? Der Misfit-Ansatz
Ein zentraler Begriff in der Forschung zum Thema Hochbegabung und ADHS ist der Misfit – eine länger andauernde Diskrepanz zwischen den individuellen Entwicklungsmerkmalen eines Kindes und seiner Umwelt. Dies kann zu Verhaltensproblemen, emotionalem Leidensdruck oder schulischer Minderleistung führen. Entscheidend ist die Unterscheidung:
- Hochbegabte mit diagnostizierter ADHS benötigen eine klar strukturierte Umgebung mit kurzen, klar definierten Aufgaben, direktem Feedback und einer sensorisch angepassten Darbietung.
- Hochbegabte mit ADHS-ähnlichem Verhalten (ohne ADHS-Diagnose) profitieren von einer Anpassung des schulischen Anforderungsniveaus, dem Erlernen von Lernstrategien sowie Maßnahmen zur Förderung der Motivation und Selbstregulation.
Hochbegabung und ADHS Eine Differenzierung ist entscheidend
Die Unterscheidung zwischen echter ADHS und ADHS-ähnlichem Verhalten bei Hochbegabten ist essenziell für eine angemessene Förderung. Während Kinder mit diagnostizierter ADHS spezifische Unterstützung in der Strukturierung und Steuerung ihres Lernprozesses benötigen, muss bei hochbegabten Kindern mit Aufmerksamkeitsproblemen geprüft werden, ob ein schulischer Misfit vorliegt. Die richtige diagnostische Einordnung ist daher die Grundlage für zielführende Fördermaßnahmen, die individuell auf das jeweilige Kind zugeschnitten sind.
Eine differenzierte Diagnostik findest Du hier
