Wenn Angst wie Wut aussieht
Warum manche Kinder Fehler nicht ertragen können
Manche Kinder leben in einer dauernden Anspannung.
Sie fürchten Fehler, sie fürchten sich vor Bewertung – denn sie befürchten, nicht genug zu sein. Die Reaktion, die von außen aussieht wie Trotz, Wut oder Verweigerung, ist oft ein Ausdruck tiefer Angst und Scham.
Diese Kinder wirken stark, aggressiv oder aufmüpfig –
doch innerlich fühlen sie sich klein, unsicher und bedroht.
Das Kind, das sich „falsch“ fühlt
Schon ab dem Kleinkindalter spüren manche Kinder, dass sie anders sind als andere. Sie nehmen vieles intensiver wahr, denken schneller, hinterfragen mehr, sind langsamer oder temperamentvoller.
Doch statt Verständnis erfahren sie häufig Korrektur, Kritik oder gar Ablehnung.
„Warum machst du das?“
„Jetzt beeil dich mal!“
„Sei doch mal still!“
Was das Kind denkt, ist etwas ganz anderes:
„Mit mir stimmt etwas nicht. Ich bin falsch.“
So entsteht über Jahre ein Muster aus Angst, Selbstzweifeln und Perfektionismus.
Das Kind will alles richtig machen – nicht, weil es ehrgeizig ist, sondern weil es Angst hat, sonst nicht mehr geliebt oder akzeptiert zu werden.
Wenn Perfektionismus zur Falle wird
Im Versuch, die Angst zu kontrollieren, entwickelt das Kind mit der Zeit einen übermäßig hohen Anspruch an sich selbst. Es möchte fehlerfrei sein, um endlich das Gefühl zu haben, „richtig“ zu sein.
Dieser Perfektionismus wirkt nach außen oft wie Ehrgeiz oder Disziplin – doch innerlich steckt darin Verzweiflung.
Das Kind bewertet sich selbst gnadenlos, vergleicht sich ständig und empfindet selbst kleine Rückschläge als persönliches Versagen.
Damit wird die Fehlerangst noch stärker: Je höher der Anspruch, desto größer die Angst, ihm nicht gerecht zu werden.
Ein Teufelskreis entsteht:
Das Kind will alles perfekt machen, um sich sicher zu fühlen.
Perfektion ist unerreichbar – das Kind erlebt wieder „Versagen“.
Das Selbstwertgefühl sinkt weiter.
Wut, Rückzug oder Verweigerung folgen.
Dieser Mechanismus erklärt, warum viele begabte, sensible oder ängstliche Kinder so stark unter Perfektionismus leiden – er ist kein Zeichen von Stärke, sondern ein Schutzmechanismus gegen Scham und Ablehnung.
Lies dazu auch meinen Blogartikel zum Thema Perfektionismus!
Wenn Hilfe sich wie Kritik anfühlt
Viele dieser Kinder haben bereits Förderungen, Therapien oder Diagnostiken hinter sich. Gut gemeinte Hilfe kann jedoch zu einem erneuten Angriff auf das Selbstwertgefühl werden – wenn das Kind sie als Beweis dafür erlebt, dass es „repariert“ werden muss.
Dann lehnt es Hilfe ab, nicht aus Trotz, sondern aus Selbstschutz.
Denn wer sich falsch fühlt, kann Unterstützung schwer annehmen.
Wenn Wut ein Hilferuf ist
Kinder, die in ständiger Alarmbereitschaft leben, reagieren auf Druck oder Bewertung mit Wut, Flucht oder Rückzug.
Ihr Nervensystem steht auf Überleben, nicht auf Lernen.
m Gehirn übernimmt das sogenannte „Echsengehirn“ – das emotionale Warnsystem.
Das Kind reagiert, als stünde ein Säbelzahntiger vor ihm: Herzrasen, Anspannung, Kampf oder Flucht.
Erst wenn es Sicherheit spürt, kann der „Fuchs“ – das reflektierende, denkende Gehirn – wieder aktiv werden.
Dann wird Nachdenken, Zuhören und Lernen überhaupt erst möglich.
Nicht immer liegt es an der Erziehung
Wenn Kinder mit Angst, Wut oder Perfektionismus reagieren, suchen viele Eltern sofort nach dem eigenen Anteil – und fühlen sich schuldig.
Doch nicht immer ist „falsches Erziehungsverhalten“ die Ursache.
Oft spiegeln diese Kinder ein gesellschaftliches Problem, das weit über die Familie hinausgeht: eine Kultur, in der Fehler schnell bewertet werden, Leistung über Wohlbefinden steht und Perfektion zum Maßstab geworden ist.
Kinder wachsen heute in einem Umfeld auf, in dem sie sich schon früh vergleichen müssen – schulisch, sozial, medial.
Auch Eltern stehen unter enormem Druck, „alles richtig zu machen“.
In dieser Atmosphäre wird es fast unmöglich, echte Fehlertoleranz zu leben.
Es geht also nicht darum, Schuldige zu suchen,
sondern gemeinsam Räume zu schaffen, in denen Unvollkommenheit erlaubt ist – für Kinder und Erwachsene gleichermaßen.
Warum unsere Gesellschaft diese Kinder oft übersieht
Unsere Gesellschaft liebt Leistung, Anpassung und Perfektion. Doch Kinder, die Angst vor Fehlern haben,
passen in diese Erwartung nicht hinein. Sie machen nicht einfach mit, sie „funktionieren“ nicht – und werden dadurch oft als schwierig, trotzig oder gar als therapieresistent bezeichnet.
Tatsächlich leiden sie unter einem tiefen Gefühl der Unsicherheit und Wertlosigkeit. Sie sehnen sich nach Annahme, nicht nach Bewertung.
Nach Strategien, nicht nach Strafen.
Wie Erwachsene diesen Kindern helfen können
Druck rausnehmen
Diese Kinder machen sich selbst schon genug Druck. Leistungsanforderungen, Vergleich oder Kritik verschlimmern ihre Angst.
Gefühle annehmen, Verhalten verstehen
Hinter jeder Wut steckt ein Gefühl: Angst, Scham, Hilflosigkeit.
Wenn Erwachsene diese Emotionen benennen („Ich sehe, du bist wütend, weil es dir wichtig war, dass es richtig wird“), erlebt das Kind: Ich werde verstanden – nicht verurteilt.
Sicherheit statt Bewertung
Kinder brauchen sichere Beziehungen.
Vorhersehbare Abläufe, ruhige Reaktionen, liebevolle Grenzen.
So lernt das Gehirn: „Ich bin sicher, auch wenn ich Fehler mache.“
Strategien zur Selbstregulation
Hilfreiche Methoden können sein:
tiefes Atmen („Ich atme wie ein schlauer Fuchs – ruhig und konzentriert“)
körperlicher Ausgleich (Schütteln, Laufen, Springen)
kleine Erfolgserlebnisse schaffen
- Achtsamkeitsübungen
Gespräche über den „inneren Säbelzahntiger“ und die Angst im Kopf
Ressourcen stärken
Frag dich: „Was kann dein Kind besonders gut? Wo fühlt es sich sicher?“
Stärke diese Bereiche – dort beginnt Heilung.
Kinder brauchen Resonanz, keine Bewertung
Wenn ein Kind wütend, verweigernd oder abweisend reagiert, dann nicht, weil es uns provozieren will, sondern weil es sich bedroht, überfordert oder nicht verstanden fühlt.
Solche Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen zeigen:
„Du bist nicht falsch. Du hast nur gelernt, dich zu schützen.“
Wenn wir aufhören, Verhalten zu bewerten – und beginnen, Gefühle zu verstehen – kann das Kind sich neu erfahren: als richtig, liebenswert und als fähig, mit seinen Ängsten umzugehen.
Dann darf der Fuchs (präfrontaler Cortex) wieder übernehmen –
und das Kind lernt: Ich darf Fehler machen und bin trotzdem richtig.

