Wenn Lernen blockiert
Wie fehlende Aufmerksamkeitssteuerung, Inhibition und kognitive Flexibilität den Schulalltag ausbremsen
Viele Eltern kennen diese Situation: Das eigene Kind ist eigentlich klug, interessiert und durchaus leistungsfähig – und trotzdem scheitert es immer wieder daran, seinen Schulalltag zu strukturieren, Aufgaben zu beginnen oder sich auf Klassenarbeiten vorzubereiten. Von außen wirkt es manchmal so, als würde das Kind einfach nicht wollen. Doch im Hintergrund wirken oft viel komplexere psychologische Prozesse.
Ein Beispiel aus meiner Praxis zeigt besonders deutlich, wie herausfordernd fehlende exekutive Funktionen für das Lernen sein können.
Ein Fallbeispiel
Ein Jugendlicher – nennen wir ihn Jonas – fiel krankheitsbedingt eine Woche in der Schule aus. Normalerweise erhält er die Materialien über das schulische Tabletsystem, doch dieses Mal wurden sie nicht hochgeladen. Er wunderte sich zwar, fragte jedoch nicht aktiv nach.
Zurück im Unterricht erfuhr er überraschend, dass eine Mathe-Klausur anstand. Die Themen aus mehreren Doppelstunden fehlten ihm vollständig. Aus Überforderung gab er fast ein leeres Blatt ab und war danach extrem frustriert.
Der innere Druck, „versagt zu haben“, brachte ihn in eine Spirale aus Scham, Wut und Selbstabwertung.
Nachmittags wollte er sich auf eine Englisch-Klausur am nächsten Tag vorbereiten, doch die negativen Emotionen blockierten ihn vollkommen. Obwohl seine Mutter ihm Hilfe anbot und konkrete Schritte mit ihm besprechen wollte, saß er stundenlang vor den Materialien, ohne zu starten. Am Abend folgte ein emotionaler Zusammenbruch – er fühlte sich hilflos, unfähig und war überzeugt, der Stoff sei „nicht zu schaffen“.
Solche Situationen wirken dramatisch – und sind zugleich typisch für Schwierigkeiten in der Aufmerksamkeitssteuerung, Inhibition und kognitiven Flexibilität.
Was passiert hier eigentlich?
Fehlende Aufmerksamkeitssteuerung
Jonas wusste rational, dass eine Prüfung ansteht. Er wusste auch, dass er sich vorbereiten müsste. Dennoch konnte er seine Aufmerksamkeit nicht dorthin lenken. Die Gedanken kreisten ausschließlich um die schlechte Erfahrung in Mathe. Die Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem umzuschalten, war durch die emotionale Belastung eingeschränkt.
Probleme mit Inhibition
Inhibition bedeutet, impulsive Reaktionen zu steuern – seien es Wut, negative Gedanken oder die Tendenz, unangenehme Aufgaben zu vermeiden. Jonas konnte den inneren Impuls, sich selbst abzuwerten oder in der Frustration stecken zu bleiben, nicht stoppen. Statt zu handeln, steigerte er sich immer weiter in seine Gefühle hinein.
Eingeschränkte kognitive Flexibilität
Kognitive Flexibilität ist die Fähigkeit, neue Wege auszuprobieren, wenn der erste nicht funktioniert. Jonas konnte in dieser Situation nicht bedenken:
„Ich habe keine Materialien bekommen – also frage ich nach.“
oder
„Ich bin überfordert – also hole ich mir Unterstützung.“
oder
„Die Situation war schlecht, aber ich kann trotzdem etwas für morgen tun.“
Stattdessen blieb er in einem Denken fest, das sich um Schuld, Versagen und externe Umstände drehte.
All diese Fähigkeiten zählen zu den exekutiven Funktionen und sind maßgeblich dafür verantwortlich, wie selbstständig Schülerinnen und Schüler ihren Lernalltag bewältigen. Viele Kinder lernen diese Kompetenzen in der Grundschule schrittweise. Manche jedoch – besonders neurodivergente Kinder – entwickeln diese Fähigkeiten später oder benötigen gezielte Unterstützung.
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Emotionale Blockaden
Wenn das Gehirn in den „Gefahrenmodus“ schaltet
Ein wichtiger Punkt im Beispiel von Jonas: Die emotionale Reaktion versperrte ihm vollständig den Zugang zu konstruktivem Denken. Wut, Scham und Angst sind starke Stressoren. Bei Kindern mit ADHS-typischen Aufmerksamkeits- und Regulationsproblemen fällt es besonders schwer, sich davon zu lösen.
Das Gehirn schaltet bildlich gesprochen in einen Alarmmodus. Die Folge:
- Keine Übersicht
- Kein Plan
- Kein Startimpuls
- Keine realistische Einschätzung der Situation
- Keine Lösungsorientierung
Stattdessen entstehen Rückzug, Vermeidung und Selbstkritik.
Der Teufelskreis aus Überforderung und Selbstvorwürfen
Jonas machte sich selbst für die schlechte Leistung verantwortlich – obwohl zahlreiche äußere Faktoren beteiligt waren. Gleichzeitig fühlte er sich ohnmächtig, denn ihm fehlten die Werkzeuge, aus dieser Situation herauszukommen.
Seine Mutter wiederum machte sich Sorgen, wollte helfen – und geriet selbst in ein Muster der Problemfokussierung. Das ist absolut menschlich. Doch unbewusst verstärkt es manchmal die Wahrnehmung des Kindes, dass die Lage „katastrophal“ sei.
Daraus kann ein Kreislauf entstehen:
Emotionale Überforderung → Vermeidung → schlechte Ergebnisse → Scham → noch mehr Vermeidung
Was Kinder in solchen Momenten wirklich brauchen
Selbstberuhigung lernen
Ohne Beruhigung keine Handlungsfähigkeit. Kinder müssen zunächst wieder in einen regulierten Zustand kommen. Das kann über Atemtechniken, Körperübungen, klare Gesprächsstrukturen oder Reflexion gelingen.
Einen realistischen Blick auf die Situation
Wie schlimm war es wirklich?
Was kann ich daraus lernen?
Was ist meine Verantwortung – und was nicht?
Schritt-für-Schritt-Strukturen
Viele Kinder wissen nicht, wie Lernen eigentlich funktioniert. Reines Lesen reicht nicht. Notizen, Markierungen, Mindmaps, Übungsaufgaben – all das muss oft erst gelernt werden.
Förderung der Eigenverantwortung
Ein wichtiger Satz im Beispiel: „Andere sollen es nicht für mich regeln – ich muss lernen, es selbst zu tun.“
Genau darum geht es. Unterstützung ja, Abnahme nein.
Training exekutiver Funktionen
Dazu gehören:• eigene Aufgaben organisieren
• Prioritäten setzen
• Zeit planen
• flexibel reagieren
• Probleme aktiv ansprechen
Gerade neurodivergente Kinder benötigen hierfür gezielte Anleitung.
Warum Schweigen keine Lösung ist
Jonas fragte weder nach Material noch nach Hilfe. Viele Jugendliche tun das nicht – aus Scham, Angst oder dem Gefühl, „es alleine schaffen müssen“. Doch genau dieses Schweigen führt zur größten Überforderung.
Kinder brauchen Ermutigung, aktiv zu kommunizieren, und stabile Beziehungen zu Lehrkräften, damit Nachfragen nicht als Schwäche, sondern als Stärke erlebt werden.
Wie Eltern helfen können
Ohne sich zu überlasten
Im Beispiel gelang es der Mutter schließlich, ihre eigene Perspektive zu verändern. Statt nur das Drama zu sehen, rückte der Fokus auf:
- Welche Ressourcen hat mein Kind?
- Was hat ihm schon einmal geholfen?
- Welche konkreten Schritte führen aus dieser Situation heraus?
Allein diese Veränderung der Haltung entspannte die Lage spürbar.
Fazit
Fehlende exekutive Funktionen sind kein „Nicht-Wollen“
Wenn Kinder an der Organisation scheitern, Aufgaben nicht beginnen können oder von Emotionen blockiert werden, hat das nichts mit Faulheit zu tun. Dahinter stehen Fähigkeiten, die noch nicht ausreichend ausgebildet sind – und die erlernbar sind.
Der entscheidende Punkt ist: Nicht die schlechten Noten sind das Problem, sondern die fehlenden Strategien.
Wenn Kinder wie Jonas lernen,
- ihre Emotionen zu regulieren,
- Verantwortung schrittweise zu übernehmen,
- ihren Lernprozess zu strukturieren und
- flexibel auf Herausforderungen zu reagieren,
dann verändert sich nicht nur ihre schulische Leistung – sondern ihr gesamtes Erleben von Selbstwirksamkeit.
Und genau hier setzt gute pädagogisch-psychologische Förderung an.
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